Von Wolfgang Böhler


Diese Woche hat das Bundesamt für Kultur die Liste mit «Lebendigen Traditionen» in der Schweiz präsentiert. Es ist eine Art Vademecum der Volks- und Laienkultur – sie geht vom Jassen über Fasnacht, Chilbi, Blasmusikwesen, Jodeln, Laientheater und Appenzeller Witz bis zu dörflichen Operettenaufführungen, Kuhkämpfen, Volkstänzen und Wilderergeschichten. Die Liste ist grossartig, weil sie endlich einmal das weitgehend unspektakuläre kulturelle Selbstverständnis breiter Volkskreise ins Bewusstsein rückt.

Man kann sich nun fragen, was lebendige Traditionen derart von der sogenannten «Hochkultur» unterscheidet, dass sie bislang für die wissenschaftliche und gesellschaftliche Reflexion und eine professionelle Weiterentwicklung als unergiebig und uninteressant galten.

Spontan reproduziert man in einer ersten Antwort Klischees wie Niveau der handwerklichen Kunstfertigkeit, Ausdifferenzierung der Ausdrucksfähigkeit, Innovationskraft oder noch pampigere wie unterschiedliche Tiefe im Ausloten spiritueller Erfahrung (ogott) oder ein anderes Vermögen der moralischen Erbauung (ogottogott).

Das letzte Argument ist in der kulturellen Mittelklasse-Elite besonders beliebt, nicht zuletzt, weil sich Argumente wie höhere Ausdifferenzierung der ästhetischen Mittel ziemlich schnell in Luft auflösen, wenn man die Erzeugnisse der Hochkultur und der Volkskultur etwas genauer analysiert.

Wer sich mit den Ausdrucksformen wirklich auseinandersetzt, merkt nämlich bald einmal, dass es genauso viel Kunstfertigkeit, Erfahrung und Ausdifferenzierung der Mittel braucht, um eine Beethovensonate zu spielen, ein Jazzsolo zu blasen, eine erinnerungswürdige Stubete zu gestalten oder einen guten Popsong zu schreiben. Die Werkzeuge und Herausforderungen sind einfach jeweils andere, immer bloss im jeweiligen Idiom gültig und damit eigentlich gar nicht vergleichbar. Auch mit Blick auf ihren «ästhetischen Wert» nicht.

Das moralische Argument ist aber natürlich genauso falsch. Die Gäste des städtischen Opernhauses oder eines Neue-Musik-Festivals sind in einer solchen traditionell bildungsbürgerlichen Ansicht die moralisch besseren und gesellschaftlich verantwortungsvolleren Menschen als Volkssatiriker oder Besucher eines Schwingfestes. In der Regel wird das natürlich nicht so krude formuliert, aber im Endeffekt läuft’s auf das hinaus.

Wenn man’s so nüchtern benennt, merkt man aber sofort, dass das natürlich kompletter Blödsinn ist. Die Kunden des Bankensponsors im Parkett des Opernhauses sind wohl kaum die besseren Menschen als die Mitglieder der Alpgenossenschaft auf den Holzbänken eines Eidgenössischen. Der Intendant des Opernhauses ist kein wertvollerer Staatsbürger als der Präsident des Organisationskomitees eines Kantonalen Sängerfestes. Auch wenn das einige von sich vermutlich selber glauben.

Was also unterscheidet Hochkultur von Volkskultur, wenn man überdies von der einfachen Tatsache absieht, dass es für die (vermutlich grosse) Mehrheit ihrer Parteigänger einfach Attribute sind, die ihre Gruppenzugehörigkeit signalisieren? Man setzt sich mit Bach, Verdi und Ligeti auseinander, weil dies in der Peer-Group einfach so ist, genauso wie man die Musigstubete besucht, weil dies unter seinesgleichen einfach zur kulturellen Selbstdefinition gehört.

Der Unterscheid scheint anderswo zu liegen: Während sich Hochkultur (speziell im protestantischen Zentraleuropa) darin gefällt, zu irritieren, Brüche auszuloten, zu erschüttern, herauszufordern und Selbstwahrnehmung zu verfeinern, sucht Volkskultur vor allem das affirmativ-praktische soziale Gemeinschaftsgefühl und den aktivierenden Effekt. Sie bildet eine Art Ermunterung zur Teilnahme und Prävention gegen Trübsinn und Isolation.

Hochkulturelle Prätention steht so gesehen gegen volkstümlichen Mutterwitz, misanthropische Individualisierung gegen familiäre Geborgenheit, passive Reflektion gegen aktives Mitwirken.

Damit reduziert sich die Wertediskussion auf die Frage, was denn nun «wertvoller» oder «hochstehender» ist: sich Asche übers Haupt streuen und Misstrauen gegenüber dem Alltagsverstand zu pflegen oder sich in einer Gemeinschaft aufgehoben und angeregt zu fühlen?

Auch da ist die Antwort, wird einmal so simpel gefragt, einfach: keines von beidem. Das hat aber auch Folgen für die Einschätzung der ästhetischen Mittel. Die eine nutzt sie zur spirituellen Erbauung und Selbstbefragung in der persönlichen Charakterbildung, der andere zum Aufbau sozialer Energie. Beides kann auf exzellentem Niveau erfolgen, beides auch von bloss dürftiger kreativer Kraft getragen werden.

Damit sei für einmal erlaubt, mit einer Platitüde abzuschliessen: Es gibt keine Hoch- und Tiefkultur, bloss gute und schlechte. Mehr Einsicht geben die moralischen und normativen Aspekte der Kultur nicht her.

 

(Quelle: Codex flores Onlinemagazin, 7. Oktober 2011)